Die Dosis macht's
Von Dr. Iris Mackensen-Friedrichs
Jeder kennt das: aufgrund von z. B. Prüfungen, hoher Arbeitsbelastung, Vorfreude auf das Wiedersehen mit dem oder der Herzallerliebsten, aber auch bei Kälte oder Schmerzen schlägt das Herz flotter und die Atmung geht schneller, rast der Puls und man hat keinen Appetit mehr. Sicherlich erinnert man sich auch, dass diese körperliche Reaktion einen häufig zu Höchstleistungen gebracht hat, wenn die Situation nicht zu belastend war und nicht zu lange anhielt. Viele Menschen arbeiten oder lernen erst intensiv und produktiv, wenn der Prüfungstermin oder die Deadline gefährlich nahe rückt. In der Prüfung sorgen diese körperlichen Reaktionen dafür, dass der Prüfling aufmerksamer ist und sich an gelernte Sachverhalte und Inhalte bestens erinnern kann. Diese Reaktionen sorgen auch dafür, dass man in entsprechenden Prüfungs- oder Arbeitsphasen nicht krank wird, indem Entzündungsreaktionen unterdrückt werden, und dass man bei sportlich rauen Betätigungen wie Handball während des Spiels kaum Schmerzempfinden hat und somit für das eigene Team weiter kämpfen kann. Sind doch alles zunächst einmal gute Auswirkungen, die diese körperlichen Reaktionen haben, oder?
„Geschafft!“ – Sichtliche Erleichterung und große Freude nach einer erfolgreichen Prüfung.
Die beschriebenen körperlichen Reaktionen werden als akute Stressreaktion bezeichnet. Leider wird sie insbesondere im Hundetraining oft ausschließlich mit krankmachend und ungesund verbunden. Folgerichtig wird dann auch versucht Stress in der Hundeerziehung – insbesondere bei den Welpen – und im Hundetraining gänzlich zu vermeiden. Aber warum sollte es unseren Hunden anders gehen als uns? Warum sollte bei Hunden jede Stress auslösende Situation oder jeder Stress auslösende Reiz (Stressoren) krank machen und das Wohlbefinden dauerhaft negativ beeinflussen? Trotz eindeutiger wissenschaftlicher Erkenntnisse hält sich bei vielen Verhaltensberatern/Hundetrainern die Ansicht, Stress müsse beim Hund vollständig vermieden werden. Genauso hält sich die Behauptung, unter Stress könne ein Hund nicht lernen. Biologisch gesehen ist so ein pauschalisierender Ansatz unhaltbar. Stress ist nicht gleich Stress und der Umgang mit Stresssituationen kann und muss sogar gelernt werden. Im Folgenden wird dargestellt, was Stress biologisch betrachtet ist, welche Chancen und Folgen er haben kann, welche Faktoren dazu führen, wie gut ein Individuum mit Stress umgehen kann und welche Schlussfolgerungen aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen für das Hundetraining gezogen werden können.
Stress und die körperliche Reaktion
Mit der akuten Stressreaktion reagiert der Körper auf Einflüsse (Stressoren), die den Idealzustand des eigenen Körpers aus dem inneren Gleichgewicht zu bringen drohen. Die akute Stressreaktion ist also zunächst einmal eine normale und lebensnotwendige Reaktion unseres Körpers auf bestimmte Reize bzw. Situationen, die auf vom Individuum unangenehm oder angenehm bewertete Reize folgt. Die Stressreaktion wird vom sogenannten autonomen Nervensystem ausgelöst und gesteuert. Das autonome Nervensystem kann willentlich nicht direkt beeinflusst werden. Für das Verständnis der Stressreaktionen sind vom autonomen Nervensystem der Parasympathikus und der Sympathikus von Bedeutung. Der Parasympathikus ist unter anderem für die Erholung, Entspannung und den Aufbau körpereigener Reserven zuständig. Hingegen steuert der Sympathikus vorwiegend die gegenteiligen Reaktionen, also welche, die eine Leistungssteigerung in Stresssituationen bewirken. Parasympathikus und Sympathikus wirken in der Regel als Gegenspieler, können sich aber auch ergänzen und ermöglichen dadurch eine angepasste Reaktion auf Stressoren.
Hunde, die lernen durften mit viel Trubel umzugehen, sind auch dann entspannt.
Nach Porges (2018) ist das autonome Nervensystem die ganze Zeit damit beschäftigt zu entscheiden, ob wir uns in einer sicheren oder unsicheren, gefährlichen Umgebung befinden. Er nennt diesen Vorgang Neurozeption. Befindet sich ein Mensch oder ein anderes Säugetier in absoluter Sicherheit und fühlt sich wohl, bestimmt nach Porges (2018) das sogenannte Social-Engagement-System das Verhalten. Dieses stammesgeschichtlich recht junge System ermöglicht es uns, schnell auf die aktuelle Umwelt einzugehen und mit anderen Menschen bzw. Säugetieren Beziehung aufzubauen. Fordert eine Situation jedoch mehr Aktivität und Leistung, sodass wir uns angespannt, gefordert und gestresst fühlen (akute Stresssituation), spielt der Sympathikus eine immer stärkere Rolle und der Parasympathikus tritt zunächst stärker in den Hintergrund. Je nach Stressor wird die zuvor beschriebene akute Stressreaktion in angepasster Intensität über den Sympathikus ausgelöst. Zu diesen Stressoren gehören zum einen Angst bzw. Furcht auslösende Reize, Emotionen wie große Freude, Wut und Ärger, aber auch Reize wie hohe Arbeits- und Sportbelastung, Sauerstoff- und Nährstoffmangel, Kälte, Hitze, Verbrennungen und Schmerzen.
Auch bei der Beschäftigung wie hier beim Mantrailen brauchen sowohl Hund als auch Hundeführer einen erhöhten Stresslevel um gemeinsam die Aufgabe zu lösen.
Der erste Teil der akuten Stressreaktion wird über den Sympathikus eingeleitet und bewirkt unter anderem die Ausschüttung von Botenstoffen wie Noradrenalin und Adrenalin. Der Körper wird damit darauf vorbereitet, bei Bedrohung oder freiwilliger Anstrengung (z. B. einer Prüfung) kraftvoll reagieren zu können. Dazu werden die Bronchien erweitert und die Herzschlagfrequenz erhöht sich. Auch werden die Atemfrequenz und der Blutfluss erhöht, sodass Sauerstoff und Energieträger wie Glukose schneller den relevanten Organen und Muskeln zur Verfügung stehen. Die Leber baut vermehrt Glykogen (Speichform der Glukose) zu Glukose ab und die Magenbewegungen und Verdauungsvorgänge werden verringert.
Als Reaktion auf einen Stressor setzt auch der zweite Teil der Stressreaktion über spezielle Areale im Gehirn, der sogenannten Hypothalamus-Hypophysen-Achse, ein. Es werden Hormone, z. B. Cortisol, ausgeschüttet, das Immunsystem gehemmt, Entzündungen unterdrückt und die Aktivität des Parasympathikus wird weiter gedrosselt. Wurde der Stressor erfolgreich bewältigt, fährt die Stressreaktion wieder herunter, der Parasympathikus wird wieder stärker aktiviert und nach einer entsprechenden Erholungszeit befindet sich der Körper wieder im Ausgangszustand. Eine hohe andauernde Belastung kann jedoch nicht auf Dauer von den beiden Stresssystemen kompensiert werden. Es kommt dann zu Erschöpfungszuständen und „Stresskrankheiten“.
Zusätzlich zu der beschriebenen Stressreaktion gehört zu den körperlichen Reaktionen auf einen Stressor plötzliche Appetitlosigkeit oder sogar vollkommen fehlende Nahrungsaufnahme, mitunter auch Zittern und Muskelanspannung. Je nach Intensität eines Stressors kann eine ängstliche Körpersprache und mangelndes Interesse an der Reproduktion hinzukommen. Bei einigen Hunden ist auch die Entleerung der Analdrüsen, Schweißpfoten, Harn- und Stuhldrang, Schuppen und Haaren zu beobachten. Wenn Hunde Schuppen und Haaren kann das lediglich ein Zeichen für eine Stressreaktion sein, wobei man nichts über die Bewertung des Stressors aussagen kann. So zeigen einige Hunde z. B. nach einer erfolgreichen Menschensuche diese Merkmale. Die Hunde hatten also Stress, in diesem Fall wurde die Stressreaktion aber durch positiv bewertete Reize oder Situationen ausgelöst, wie hier das Suchen. Das Suchen macht den meisten Hunden großen Spaß macht und wird daher wahrscheinlich als Herausforderung empfunden, was die Stressreaktion auslöst.
Arten von Stress
Wird ein Stressor als Herausforderung empfunden und gemeistert (sogenannter Eustress), wächst das Individuum daran und lernt dadurch den Umgang mit zukünftigen gleichen und ähnlichen Situationen. Gemeisterte Herausforderungen aktivieren das körpereigene Belohnungssystem, sodass die empfundene Freude groß ist und nicht selten auch die Motivation steigt, sich ähnlichen Herausforderungen erneut zu stellen. In einer Studie an Fallschirmspringern konnte gezeigt werden, dass nach dem ersten Sprung an einem Führungsseil von einem Zehnmeterturm die Teilnehmer einen drastisch erhöhten Cortisolspiegel im Blut aufwiesen. Bereits nach einem zweiten Sprung sanken die Cortisolwerte auf den jeweiligen normalen Wert und so blieben sie auch bei den nachfolgenden Sprüngen. Der Umgang mit dieser zunächst recht stressigen Situation wurde erlernt.
Auf Hunde angewendet bedeutet das, dass Welpen moderaten Stresssituationen ausgesetzt werden dürfen und sogar müssen, um den Umgang mit zukünftigen Stresssituationen zu lernen. Wichtig dabei ist, dass die jeweilige Stresssituation an den Welpen individuell so angepasst ist, dass der Welpe durch sie weder überfordert noch unterfordert ist. Der Hund soll also in der Lage sein, die Situation zu meistern, und soll nicht gelangweilt sein. Im Anschluss an eine moderate und gemeisterte Stresssituation benötigt der Welpe genügend Erholungszeit, um die gemachten Lernerfahrungen zu verarbeiten.
Anders als beim Eustress verhält es sich jedoch, wenn das Individuum an der Herausforderung scheitert und die Situation als Leid, Kontrollverlust und/oder Bedrohung empfunden wird. Das wird dann Distress genannt. Je nachdem wie einschneidend diese Erfahrung für das Individuum war und wie frühere Erfahrungen bewertet worden sind, kann daraufhin das Individuum diese oder ähnliche Situationen in Zukunft meiden. Beim Distress wird zwischen tolerierbarem und toxischem (giftigem) Stress unterschieden. Beim tolerierbaren Distress ist das Individuum aufgrund vorhandener Bewältigungsstrategien (Copingstrategien), externer Ressourcen wie sozialer Unterstützung und interner Ressourcen, wie bestimmter Persönlichkeitseigenschaften z. B. ausdauernd oder mutig, noch in der Lage sich angepasst zu verhalten. Beim toxischen Distress sind jedoch keine Bewältigungsstrategien und keine Ressourcen vorhanden. In der aktuellen Stresssituation entscheiden im Wesentlichen zwei Faktoren darüber, wie stressig die Situation eingeschätzt wird. Wie viele bekannte Elemente sind in der Situation vorhanden (Neuigkeitsgrad: „Novelty“) und wie groß ist die Unfähigkeit vorherzusagen, was als nächstes passiert. Beide Faktoren hängen eng mit den bisher gemachten Erfahrungen zusammen. Sind wenige bis keine bekannten Elemente in der Situation vorhanden, führt das häufig zu Angst.
Des Weiteren wird der Stress aufgrund der Dauer der Stresssituation in akuten Stress und Langzeitstress unterschieden. Akuter Stress dauert Minuten bis Stunden an und kann sowohl vorteilhafte und unvorteilhafte Folgen für Lern- und Gedächtnisprozesse haben (Vortrag, Handballspiel). Hingegen dauert Langzeitstress Wochen bis Monate an und hat in irgendeiner Form ungünstige Folgen für Lern- und Gedächtnisprozesse (Langzeitpflege, Doktorarbeit). So kann z. B. die sogenannte Erlernte Hilflosigkeit entstehen, wenn ein Individuum über eine längere Zeit nicht vorhersehbaren und nicht kontrollierbaren Stressoren ausgesetzt wird (siehe CANIS-Artikel "Angst").
Entwicklung des Stresssystems in der Individualentwicklung
Das Stresssystem entwickelt sich bei Säugetieren bereits in den ersten Trächtigkeitswochen, also bereits im Mutterleib. Wird das Stresssystem der Mutter während der Trächtigkeit bzw. Schwangerschaft z. B. aufgrund einer lebensbedrohlichen Situation oder lang anhaltender Erfahrung von Leid und Hilflosigkeit stark und ggf. auch dauerhaft aktiviert, passiert das ebenfalls bereits mit dem Stresssystem des Ungeborenen. Das Ungeborene wird dadurch darauf vorbereitet, in eine gefährliche Umwelt hinein geboren zu werden. Das ergibt aus biologischer Sicht Sinn, da dann das Stresssystem nach der Geburt schneller und bei bereits schwächeren Stressoren aktiviert wird, was für ein Wildtier überlebenswichtig sein kann. Neuere Untersuchungen geben zudem Hinweise darauf, dass sowohl bereits Erfahrungen während der Spermaentwicklung beim väterlichen Tier als auch Erfahrungen während der Eizellenentwicklung beim mütterlichen Tier Einfluss auf die Entwicklung des noch nicht gezeugten Lebewesens, insbesondere auf ihr Stresssystem, haben können (Wissenschaft der Epigenetik). So sind die Welpen von Hündinnen, die während der Tragzeit großem Stress ausgesetzt waren, häufig unruhiger und nervöser als Welpen von Hündinnen, die ihre Tragzeit in einem stressfreien Umfeld verleben konnten.
Normalerweise wird allerdings in der ersten Lebenszeit das Stresssystem etwas gehemmt, damit Erkundungsverhalten möglich ist und das Jungtier in der Lage ist, sich mit seiner Umwelt aktiv auseinanderzusetzen. Wie wichtig diese aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt ist, wurde bereits im vorherigen Abschnitt betont: Je weniger Unbekanntes und Unvorhersehbares eine Situation aufweist, desto weniger wird das individuelle Stresssystem aktiviert. Moderate Aktivierung des Stresssystems ist wichtig, um den Umgang mit Stresssituation zu lernen. Manchmal kann es für Welpenbesitzer schwer sein, dabei zuzusehen, wie ihr Welpe auch mal unschöne Erfahrungen macht. Wenn der Welpe von einem liegenden Baumstamm kullert, weil er sich verschätzt hat, oder er von einem anderen Hund gemaßregelt wird, weil er zu frech war, ist das unschön – gehört aber schlichtweg zu einer normalen Entwicklung dazu.
Ups – verschätzt und umgefallen! Kurzzeitige Stresssituationen gehören zu einer normalen Entwicklung dazu.
Was hilft gegen Stress?
Eine der wichtigsten Ressourcen, auf die in Stresssituationen zurückgegriffen werden kann, ist eine sichere Bindung zu einem Sozialpartner. Die Anwesenheit eines Bindungspartners löst die Ausschüttung des Bindungshormons Oxytocin aus, welches den Cortisolspiegel (Stresshormon) senkt. Haben wir z. B. gerade erfahren, dass ein enger Familienangehöriger plötzlich verstorben ist (emotionaler Stress), hilft es, den Partner oder einen nahestehenden Freund anzurufen. Allein das Hören der vertrauten Stimme kann zur Folge haben, dass man sich beruhigter und entspannter fühlt. Da Hunde hoch soziale Lebewesen sind, die zu einer fein abgestuften Kommunikation fähig sind und die über eine Stimmungsübertragung schnell eine Situation erfassen können, ermöglicht eine gute Hund-Halter-Beziehung eine stressreduzierende Wirkung. So konnte bei Hunden nachgewiesen werden, dass ihr Cortisolspiegel in einer stressauslösenden Situation geringer ist, wenn ihr Halter anwesend ist im Vergleich zur Anwesenheit eines Fremden (Schöberl et al. 2016). Aus diesen und ähnlichen Forschungsergebnissen lässt sich schließen,
dass Hunde, auch schon Welpen, stressreichere Situationen besser bewältigen können, wenn ihnen ein liebevoller, souveräner und Sicherheit ausstrahlender Halter zur Seite steht. Frei nach dem Motto: Gemeinsam schaffen wir das!
Eine gute Hund-Halter-Beziehung ermöglicht eine stressreduzierende Wirkung auch in stressreicheren Situationen.
Stress und Lernen
Im Stress kann man nicht lernen? Nein, ganz im Gegenteil, ein moderater Stresslevel ist sogar von Vorteil, wenn es um das bewusste Lernen und Erinnern von Inhalten und Problemlösen geht. Den Zusammenhang zwischen Erregungsniveau (Stresslevel) und der Leistungsfähigkeit beschreibt bereits das Yerkes-Dodson-Gesetz von 1908:
Die Stress-Leistungskurve nach Yerkes und Dodson.
Das Yerkes-Dodson-Gesetz besagt, dass eine mittlere Aktivierung/Anregung zu optimalen Leistungen in Abhängigkeit des Schwierigkeitsgrades führt. Die Gültigkeit dieses Zusammenhanges war lange Zeit umstritten, in neueren Untersuchungen zeigen sich aber immer mehr deutliche Hinweise auf den in der Grafik dargestellten U-förmigen Zusammenhang zwischen Anregungsniveau bzw. Stresslevel und der Leistung von Säugetieren. Überschätzt ein Prüfling z. B. seine Fähigkeiten in dem zu prüfenden Bereich, ist er womöglich sowohl in der Prüfungsvorbereitung als auch in der Prüfung zu wenig angeregt. Infolgedessen fällt er wahrscheinlich durch (linker Bereich der Kurve). Schätzt der Prüfling hingegen seine Fähigkeiten gut ein, lernt entsprechend und ist in der Prüfung angeregt, d.h. er empfindet eine leichte bis mittlere Aufregung, sorgt der erhöhte Stresslevel dafür, dass er sich an die Inhalte besser erinnern und sich besser auf die Aufgaben konzentrieren kann. Mit höherer Wahrscheinlichkeit wird er dann die Prüfung bestehen (mittlerer Bereich der Kurve). Ist der Stresslevel des Prüflings jedoch zu hoch, weil er z. B. schon wiederholt durch diese Prüfung gefallen ist und bereits eine Prüfungsangst entwickelt hat, kann er auch aufgrund des erhöhten Cortisolspiegels (Stresshormon) die gelernten Inhalte nicht abrufen, sich nicht auf die Aufgaben konzentrieren und neue Inhalte/Lösungen könnte er unter diesem Stresspegel nicht lernen (rechter Bereich der Kurve). Aber selbst unter diesem hohen Stresspegel ist es nicht so, dass gar nichts mehr gelernt wird. Emotionen werden in solchen Situationen durchaus erlernt und später auch mehr oder weniger gut bewusst erinnert. Es ist bekannt, dass bei einem mittleren Stressniveau der Teil der Großhirnrinde aktiv ist, der für das bewusste Denken und Erinnern zuständig ist. Bei einem zu hohen Stresspegel sinkt dessen Aktivität. Hingegen nimmt die Aktivität der Hirnregion, die für Emotionen und emotionale Tönungen von Ereignissen zuständig ist, die sogenannten Mandelkerne, zu. Ergänzt sei hier noch, dass Faktoren wie Tagesform, Krankheit, Schmerz, Müdigkeit, Umgebung, hormoneller Zustand, Genetik (Rasse) und frühere Lernerfahrungen beeinflussen, ob und wie schnell oder langsam der Stresspegel durch eine konkrete Aufgabenstellung steigt.
Für das Hundetraining bedeutet das, dass Trainingsaufgaben an den Trainingsstand des jeweiligen Hundes angepasst werden sollten. Hat die Aufgabe den optimalen Schwierigkeitslevel, sodass der Hund die Aufgabe meistern kann, wird das körpereigene Belohnungssystem aktiviert, sodass sich ein Gefühl wie Freude einstellt und die Motivation für das nächste Training steigt. Auch bei einer Bestrafung im lerntheoretischen Sinn (vgl. CANIS-Artikel "Bestrafung"), wird der Hund eine erhöhte Anspannung empfinden. Ein etwas ausführlicheres Beispiel soll das im Folgenden erläutern. Der Stresslevel eines Hundes wird sich erhöhen, wenn er z. B. von seinem Menschen im Rahmen einer individuell angepassten Bestrafung durch eine offensive Körpersprache weggeschickt wird. Auch der Stresslevel des Halters wird in einer solchen Situation steigen. Beiden ermöglicht der erhöhte Stresslevel aufmerksamer, schneller sowie angemessen in der Situation zu handeln. Beide sind durch den erhöhten Stresslevel in der Lage, das gerade Erlebte besser abzuspeichern und bei Bedarf wieder zu erinnern. Hat der Hund verstanden, wird er in der Regel eine passive Unterwerfung zeigen, woraufhin der Halter in eine freundliche und offene Körpersprache wechselt. Der Stresslevel sinkt wieder auf den jeweiligen normalen Bereich. Gerne wird von einem Betrachter einer solchen oder ähnlichen Szene interpretiert, dass der Hund sich lebensgefährlich bedroht fühle, Angst vor seinem Besitzer habe und folglich das Vertrauen in seinen Menschen verlieren würde. Diese vorschnelle Interpretation weist zwei Fehlansätze auf. Zum einen ist eine passive Unterwerfung nicht mit dem Ausdruck der Emotion Angst gleichzusetzen. Im Unterschied zum Angstausdruck zeigen Hunde in der passiven Demut keine weit geöffneten Pupillen und die Muskulatur ist relativ entspannt. Zwar kann eine passive Demut in einen Angstausdruck übergehen, aber ein passiver Demutsausdruck ist nicht per se ein Angstausdruck! Der Ausdruck der passiven Demut kommuniziert lediglich die Akzeptanz einer Einschränkung. Zum anderen ist es doch recht unwahrscheinlich, dass ein Hund sich lebensgefährlich bedroht fühlt, wenn ein Halter, zu dem er eine sichere Bindung hat, im Rahmen einer Lernsituation kurzzeitig eine offensive Körpersprache zeigt und diese zurücknimmt, sobald der Hund kommuniziert, dass er die Einschränkung verstanden und akzeptiert hat. Der Hund steht der Situation also nicht hilflos gegenüber und hat selbst eine Lösung gefunden – er ist demnach in einem moderaten Stressbereich, in dem er optimale Leistungen zeigen kann. Von einer traumatischen Erfahrung, erlernter Hilflosigkeit und toxischem Stress ist der Hund weit entfernt.
Eine passive Unterwerfung in der Kommunikation zwischen zwei Hunden: Sicherlich ist ein angepasster, erhöhter Stresslevel im Spiel aber sicherlich keine Angst oder lebensgefährliche Bedrohung.
Stress und Verhalten
Nachdem es bisher darum ging, was Stress ist, welche körperlichen Reaktionen er auslösen und wie er sich auf das Lernen auswirken kann sowie um die Entwicklung des Stresssystems, soll es nun um die unterschiedlichen möglichen Verhaltensweisen gehen, die Säugetiere in einer Stresssituation zeigen können.
Die bereits beschriebene akute Stressreaktion bereitet den Körper auf angepasste Verhaltensweisen gegenüber Bedrohungen und auf stark freudige Situationen vor. Die Stressreaktion ist keine „ganz-oder-gar nicht“- Reaktion, sondern läuft normalerweise fein abgestuft, angepasst an den jeweiligen Kontext, ab. Stress ist also nicht gleich Stress! Welche Verhaltensweisen auf einen Stressor folgen können, hängt vom individuell empfundenen Grad der Bedrohung bzw. der Anspannung ab sowie von der Persönlichkeit, den Lernerfahrungen, dem aktuellen Zustand des Individuums und der jeweiligen Situation.
In der Fachliteratur findet man häufig die folgenden vier Verhaltensweisen als Reaktion auf einen Stressor (Marks, 1994):
Kämpfen und Flüchten erklären sich von selbst. Die Reaktion „Erstarren“ dient nach Marks dazu, einen Überblick über die Situation zu bekommen und daraufhin zu entscheiden, welche Verhaltensweise zielführend ist. Zusätzlich zählen dazu auch das Verstecken und das Erstarren mit dem Ziel, von einem Raubtier nicht aufgrund der eigenen Bewegung wahrgenommen zu werden. Die Reaktion des „Beschwichtigens oder Unterwerfens“ kann vor allem sinnvoll gegenüber Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppe sein, die eine mögliche Gefahr darstellen. So wird bei Schimpansen ein physischer Angriff des ranghöchsten Männchens in einer Begrüßungssituation durch beschwichtigendes Verhalten verhindert (Buss, 2004). Hierbei muss aber darauf hingewiesen werden, dass nicht jedes Beschwichtigungs-/Unterwerfungsverhalten auf einen stark erhöhten Stresslevel schließen lässt. Oft handelt es sich bei diesen Verhaltensweisen um eine hoch ritualisierte Kommunikationsstrategie, die schlichtweg vermittelt, dass eine Einschränkung eines Sozialpartners vermeintlich akzeptiert wird. Eine bisher lediglich beim Menschen nachgewiesene Copingstrategie ist das Flirten von Frauen gegenüber einem als bedrohlich eingestuften Mann.
Laufen die genannten Verhaltensweisen ab, ist der Organismus noch in der Lage bewusst zu denken und zu handeln, die Großhirnrinde hat noch das Sagen. Das Erinnerungs- und Lernverhalten sind in der Regel wenig beeinflusst.
Wird die Bedrohung oder Herausforderung stärker und damit die Anspannung immer größer und helfen die genannten Verhaltensweisen nicht mehr, die Situation zu bewältigen, wird diese Situation vom autonomen Nervensystem als lebensbedrohlich eingestuft. Eine solche Situation ist häufig eine traumatische Situation, wie z. B. eine Vergewaltigung. Nach Porges (2018) und Schauer & Elbert (2010) gibt es drei weitere Reaktionen, die auf einen derart traumatischen Stressor erfolgen können: das Einfrieren (engl. to fright), das Erschlaffen (engl. to flag) und das Ohnmächtig werden (engl. to faint).
Stammesgeschichtlich handelt es sich hierbei um sehr alte Reaktionen. So frieren Reptilien bei Gefahr einfach ein und fahren über den Parasympathikus sämtliche Herz-Kreislauf- und Atemvorgänge herunter. Reptilien gehören zu den wechselwarmen Tieren, deren Körpertemperatur der Umgebungstemperatur entspricht, sie können ihre Körpertemperatur nicht wie Säugetiere auf einer Temperatur halten. Von daher sind sie daran angepasst, auch mit extrem geringer Tätigkeit des Herzkreislaufsystems und der Atemvorgänge wie z. B. nachts oder bei der Überwinterung klar zu kommen. Säugetiere sind hingegen daran nicht angepasst, sodass es durch die gleichzeitige Aktivierung von Sympathikus und Parasympathikus letztlich zum Herzstillstand kommen kann. Im absoluten Notfall, wenn nichts anderes mehr geht, greift der Säugetierkörper trotzdem immer noch auf diese stammesgeschichtlich alten Verhaltensmuster zurück. In der Folgenden Grafik sind noch einmal alle Verhaltensmuster der Stressreaktion in Abhängigkeit vom Grad der Bedrohung dargestellt (verändert nach Schauer & Elbert, 2010 aus Peichel, 2014 ).
Verhaltensmuster der Stressreaktion in Abhängigkeit vom Grad der Bedrohung (verändert nach Schauer & Elbert, 2010 aus Peichel, 2014).
Stufe 1: Freeze (Orientierungsreaktion):
Auf dieser Stufe der Bedrohung friert der Körper zur Bewegungslosigkeit ein, ist aber sehr aufmerksam und wachsam und ist in Bereitschaft zu handeln. Diese Stufe dient der Informationssammlung, um eine Überblick über die Lage zu bekommen. Dazu erfolgen zunächst durch den Parasympathikus eine Hemmung des Herzschlags und eine Reduktion der Schreckreaktion (Aktivierung des Systems des sozialen Engagements). Kurz darauf wird über den Sympathikus der Herzschlag beschleunigt und die Schreckreaktion erhöht.
Stufe 2 und 3: Flight (Flucht) und Fight (Kampf):
Auf der Stufe 2 und 3 läuft die zuvor beschriebene akute Stressreaktion über die verstärkte Aktivierung des Sympathikus ab. Zunächst wird in der Regel versucht zu fliehen und, wenn das nicht möglich ist, zu kämpfen. Aufgrund entsprechender Lernerfahrungen können Individuen auch direkt in den Kampf übergehen. Im Rahmen der akuten Stressreaktion wird der Botenstoff Endorphin frei gesetzt, um die Schmerzempfindlichkeit zu verringern. Bleiben diese Copingstrategien erfolglos, steigt die Erregung des sympathischen Nervensystems weiter und es stellt sich bei nahezu maximaler Erregung ein generelles Angstgefühl begleitet von Schwindelgefühl, Übelkeit, Herzklopfen und Benommenheit ein. Der Organismus ist kurz vor der Stufe 4, der Parasympathikus wird nun aktiviert.
Stufe 4: Fright (tonische Immobilität):
Auf der Stufe 4 sind sowohl das sympathische als auch das parasympathische Nervensystem gleichzeitig aktiviert, was sogar einen möglichen Herztod zur Folge haben kann. Diese Stufe ist kennzeichnet durch eine Abnahme der körperlichen Wahrnehmung und des Schmerzempfindens sowie einer starken Verminderung der bewussten Denk- und Erinnerungsfähigkeiten, die in den Phasen 1-3 noch mehr oder weniger zur Verfügung standen. Die Muskulatur ist stark angespannt, Bewegungen sind aber nur eingeschränkt und langsam möglich. In diesem Zustand wirkt das Individuum wie tot, ist aber innerlich hoch erregt. Der Körper ist muskulär nahezu verkrampft und voller Angst, ist aber nicht in der Lage auf Schmerz oder andere Reize bewusst zu reagieren.
Stufe 5 und 6: Flag (Erschlaffen) und Faint (Ohnmacht):
Auf dem absteigenden Bereich der Kurve erschlafft nun die Muskulatur (schlaffe und reaktionslose Bewegungslosigkeit) und es kann zur Ohnmacht (Stufe 6) kommen, da nun die Aktivität des Sympathikus abnimmt und die des Parasympathikus steigt. Das Individuum ist nun in einer Situation aus der es kein Entkommen mehr gibt. Das Individuum gibt sich auf. Aufgrund der steigenden Aktivität des Parasympathikus erweitern sich die Blutgefäße und die Herzfrequenz und der Blutdruck fallen stark ab. Im Gegensatz zur Stufe 4 sind die Muskeln nun erschlafft, Willkürbewegungen lassen nach, die Wahrnehmung von inneren und äußeren Reizen ist abgeschwächt und es kommt zu Veränderungen der Körperwahrnehmung sowie dem Verlust der Körperkontrolle. Die bewusste Verarbeitung der Ereignisse ist nur noch stark begrenzt möglich. Schreitet der Schlaffheitszustand weiter fort, sinkt die emotionale Beteiligung und das Individuum ist zunehmend weniger in der Lage, bewusst zu denken und zu handeln. Auch wird es mit zunehmender Erschlaffung schwieriger, Inhalte im Gedächtnis zu festigen, was späteres Erinnern erschwert.
Die dargestellten Zusammenhänge weisen deutlich darauf hin, dass Verhaltensweisen, die aufgrund eines Stressors gezeigt werden, sehr stark vom Grad der Bedrohung abhängen. Nur weil ein Hund einen leicht erhöhten Stresslevel zeigt, fühlt er sich nicht gleich lebensgefährlich bedroht, wie das leider oft vorschnell hinein interpretiert wird. Die Grafik stammt aus der Forschung zur Neurophysiologie traumatischer Erfahrungen beim Menschen. Den Stufen 4 bis 6 liegen hierbei massive traumatische Erfahrung zugrunde. Diese Verhaltensweisen/Notfallreaktionen mit leichten Distresssignalen beim Hund gleichzusetzen ist absolut überzogen und unangemessen. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Hunde massive traumatische Erfahrungen erleben und daraufhin Traumafolgestörungen entwickeln können. Aber eine gut gesetzte Bestrafung im lerntheoretischen Sinn (vgl. CANIS-Artikel "Bestrafung"), die oft mit einer mäßigen Stressreaktion einhergeht, mit einer traumatischen Erfahrung gleichzusetzen, ist aus fachlicher Sicht nicht gerechtfertigt.
Fazit
Die dargelegten Inhalte rund um das Thema Stress verdeutlichen, dass Stress nicht gleich Stress ist und dass Stressoren fein abgestufte, an die Situation angepasste Verhaltensweisen initiieren. Abgesehen von der individuellen Bewertung, ob es sich bei einem Reiz um einen Stressor handelt oder nicht, der Dauer der Stressbelastung, sowie Vorhandensein erfolgreicher Copingstrategien, bestimmt der Grad der wahrgenommenen Bedrohung, welche Verhaltensweisen als Reaktion auf den Stressor gezeigt werden.
Hunde müssen bereits als Welpen moderaten Stresssituationen ausgesetzt werden, um den Umgang mit zukünftigen Stresssituationen zu lernen. Wichtig dabei ist, dass die jeweilige Stresssituation an den Welpen individuell angepasst ist, dass dieser in der Lage ist, die Situation zu meistern und dass dieser sich anschließend entsprechend erholen kann, um die Erfahrungen auch langfristig zu verarbeiten. Eine sichere Mensch-Hund-Bindung wirkt stressmildernd und sorgt für einen sicheren Rahmen. Setzt man einen Welpen möglichst keinen Stressreizen bzw. -situationen aus, verweigert man dem Welpen einen adäquaten Umgang mit Stressoren zu lernen und nimmt ihm zudem viele Erfolgserlebnisse, die sich gut anfühlen (körpereigenes Belohnungssystem). Im schlimmsten Fall kann das für den später erwachsenen Hund bedeuten, dass alles Unbekannte als sehr bedrohlich empfunden wird, der Hund immer wieder Angst und Hilflosigkeit erlebt und das Stresssystem permanent aktiviert ist. Aus Tierversuchen und Untersuchungen an Menschen ist bekannt, dass dauerhafter oder sich immer wiederholender, nicht gemeisterter Stress sich negativ auf die körperliche und psychische Gesundheit auswirkt (z. B. Antriebslosigkeit, Apathie, Autoimmunkrankheiten, Magengeschwüre). Einen Hund von klein auf von adäquaten Stressreizen und Stresssituationen fernzuhalten, ist von daher aus lerntheoretischer Sicht nicht sinnvoll, meiner Meinung nach sogar tierschutzrelevant.
Ein Welpe erlebt etwas Neues – sein angepasster Stresslevel ermöglicht ihm eine angepasste und angemessene Reaktion und eine erfolgreiche Lernerfahrung.
Letztlich ist es im Hundetraining und in der Hundeerziehung wichtig, Hunde und auch schon Welpen individuell angepassten Stresssituationen auszusetzen und damit Lernerfahrungen in einem sicheren Rahmen aufgrund einer sicheren Mensch-Hund-Bindung zu ermöglichen. Es gibt nicht den Stress, der per se krank macht, sondern wie Paracelcus im 16. Jahrhundert schon formulierte: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei.“ Hat der Artikel Sie gestresst? Ich hoffe ja und zwar auf einem moderaten Level!
Zum Weiterlesen:
Dr. rer. nat. Iris Mackensen-Friedrichs studierte Biologie und Chemie für das höhere Lehramt in Göttingen und promovierte im Anschluss an das Referendariat. Seit 2008 ist sie CANIS-Absolventin. Sie führt ihre eigene Hundeschule Canicoach in der Nähe von Kiel mit dem Schwerpunkt auf Verhaltensberatung und Mantrailing. Bei CANIS-Zentrum für Kynologie ist sie für die wissenschaftliche Leitung sowie als Dozentin u.a. für die Bereiche Zucht und Genetik, Verhaltenstherapie, Lernverhalten und Körpersprache des Hundes zuständig.
Schriftliche Beiträge dürfen nur in vollständiger Form weitergeleitet oder veröffentlicht werden, wobei stets die Zustimmung von CANIS unter info@canis-kynos.de einzuholen ist und die Quellenangabe
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Der CANIS-Podcast – Hundeexpert:innen ausgefragt